EuGH: Flüchtlingseigenschaft für Frauen aus Afghanistan

Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon im Januar dieses Jahres eine sehr schöne Entscheidung zu geschlechtsspezifischer Verfolgung getroffen hat, legt er am heutigen Tage noch einmal nach, und zwar speziell zu Frauen aus Afghanistan:

Unter diesen Umständen können die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.

[EuGH, Urteil vom 04.10.2024, C‑608/22 und C‑609/22, Rn. 57]

Also, die Situation der Frauen ist so prekär, dass, wenn Geschlecht und Staatsangehörigkeit feststehen, dies bereits ausreicht, um die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass es noch einer weitergehenden, individuellen Prüfung der Fluchtgründe, wie sie für das Asylverfahren eigentlich typisch ist, bedarf. Heißt das wirklich, dass bei Asylanträgen afghanischer Frauen nix mehr schiefgehen kann? Wie immer ist die Sache ein wenig komplizierter.

Weiterlesen: EuGH: Flüchtlingseigenschaft für Frauen aus Afghanistan

Zur Situation der Frauen in Afghanistan

Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat das Verfahren dem EuGH vorgelegt. In der Vorlage beschreibt das österreichische Gericht eindrucksvoll die gegen Frauen gerichteten Restriktionen des Taliban-Regimes gegen Frauen, die

insbesondere darin bestehen, dass Frauen

–        die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

–        keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

–        allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatteten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

–        einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

–        der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

–        der Zugang zu Bildung – gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) – verwehrt wird,

–        sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

–        ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

–        keinen Sport ausüben dürfen[.]

[EuGH, Urteil vom 04.10.2024, C‑608/22 und C‑609/22, Rn. 30]

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt grundsätzlich „eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“ (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) voraus. Darüber ließen sich, wenn man jeweils die einzelnen Aufzählungspunkte isoliert betrachtet, möglicherweise streiten. Ist ein Verbot, Sport auszuüben, für sich genommen bereits eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte? Glücklicherweise braucht man diese Frage nicht abschließend zu beantworten. Denn es ist anerkannt und mittlerweile auch Gesetz (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), dass es für eine Flüchtlingsanerkennung auch ausreicht, wenn mehrere Maßnahmen gemeinsam (kumulativ) einer derartigen Menschenrechtsverletzung gleichkommen.

Zur gegenwärtigen Entscheidungspraxis des BAMF

Das sieht auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), also die Behörde, die in Deutschland für die Prüfung von Asylbegehren zulässig ist, so. Tatsächlich entspricht es bereits seit einiger Zeit der Entscheidungspraxis des BAMF, Frauen aus Afghanistan in der Regel die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Insofern wird sich durch die Entscheidung in Deutschland gar nicht so viel ändern.

Dennoch betont das BAMF dabei stets, dass es sich um eine Einzelfallprüfung handelt, und anderslautende Entscheidungen im Einzelfall durchaus zulässig seien. Dabei ist wohl der Gedanke, dass es Frauen geben mag, die ohnehin freiwillig aufgrund eigener, religiöser Überzeugung nach den Geboten der Taliban leben, und die deswegen möglicherweise auch keine Verfolgung durch die Taliban zu befürchten haben. Für diese Einschränkung dürfte die Entscheidung des EuGH kaum Raum lassen, denn der EuGH postuliert eben eindeutig, dass es für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausreicht, wenn Geschlecht und Staatsangehörigkeit feststehen. Zwar verbietet der EuGH eine weitere Prüfung nicht unbedingt ausdrücklich, aber er macht sie zumindest überflüssig.

Und wo ist jetzt der Haken?

Es steht nicht ausdrücklich in der Entscheidung drin, wird aber impliziert: Die Entscheidung bezieht sich nur zulässige Asylanträge (§ 29 AsylG). Das heißt konkret, wenn das BAMF einen Asylantrag einer afghanischen Frau für unzulässig hält, hindert diese Entscheidung das BAMF nicht daran, den Asylantrag abzulehnen. Das kann insbesondere in Dublin-Fällen passieren, wenn also das BAMF ein anderes EU-Land für das Asylverfahren für zuständig hält, oder, wenn das BAMF der Auffassung ist, dass die Antragstellerin sich auf den in einem anderen EU-Land bereits gewährten Schutz verweisen lassen muss. Dann sind entsprechende Unzulässigkeitsentscheidungen durchaus möglich, und, dementsprechend, ggf. auch Abschiebungen dorthin.

Ferner erscheint mir auch denkbar, dass BAMF und restriktive Verwaltungsgerichte beim Begriff „Frau“ bzw. der Voraussetzung, dass das „Geschlecht erwiesen“ sein muss, ansetzen könnten. So rechne ich fest mit Entscheidungen in Bezug auf junge Mädchen, die postulieren, dass diese eben noch keine Frauen und von den Restriktionen der Taliban aufgrund ihres jungen Alters noch nicht so weit betroffen seien, dass eine Flüchtlingsanerkennung erforderlich sei. Zwar steht einer solchen Interpretation aus meiner Sicht entgegen, dass der EuGH ausdrücklich nur von Geschlecht und Staatsangehörigkeit spricht, und weitere Einschränkungen und Voraussetzungen, etwa das Alter betreffend, nicht erwähnt werden. Da in demselben Satz aber eben auch das Wort „Frauen“ fällt, muss damit gerechnet werden, dass versucht werden wird, hier die eine oder andere Antragstellerin aus dem Anwendungsbereich der Entscheidung hinauszudefinieren.

Denkbar ist zudem auch, dass versucht werden wird, queeren Menschen (namentlich trans/inter) das Leben schwerzumachen, indem ihre geschlechtliche Identität hinterfragt wird, um so zu der Einschätzung zu gelangen, dass sie ja keine „Frau“ seien bzw. ihr Geschlecht nicht „erwiesen“ sei (eine andere Frage ist freilich, ob queeren Menschen aus Afghanistan nicht schon deswegen, weil sie queer sind, immer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist).

Und was kann man jetzt damit machen?

Untätigkeitsklagen erheben und Folgeanträge stellen.

Untätigkeitsklagen

Zumindest in Fällen, in denen Geschlecht und Staatsangehörigkeit unstrittig sind, dürfte es sinnvoll sein, fürderhin auf eine zügige Entscheidung des BAMF zu drängen und ggf. großzügig Untätigkeitsklagen zu erheben. Das BAMF wird sich kaum noch mit Erfolg darauf berufen können, dass umfangreiche Einzelfallprüfungen, etwa was die Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte und ähnliche Dinge angeht, erforderlich seien. Aus demselben Grund könnte auch erwogen werden, in diesen Fällen Untätigkeitsklagen nicht als sog. Bescheidungsklage zu erheben, sondern direkt auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu richten.

Folgeanträge

Interessant ist die Entscheidung zudem auch für Frauen, deren Asylanträge abgeschlossen sind, und die nicht als Flüchtlinge anerkannt worden sind. Denn mit Urteil vom 08.02.2024, C-216/22, hat der EuGH bereits entschieden, dass seine eigenen Entscheidungen neue Elemente im Sinne des § 71 AsylG sein können, die es also rechtfertigen können, ein neues Asylverfahren durchzuführen (hier hatte ich bereits mehr zu diesem Thema geschrieben). Damit dürfte jetzt ein guter Zeitpunkt für Folgeanträge für afghanische Frauen sein, denen die Flüchtlingseigenschaft bislang versagt bliebt.

Ceterum censeo

Die Taliban sind Verbrecher. Ihr Regime gehört geächtet und ausgegrenzt. Zwar setzt dringend notwendige Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung Afghanistans auch eine gewisse Zusammenarbeit mit den Institutionen der Taliban voraus. Dass jedoch SPD, Grüne und FDP mit diesem Regime zusammenarbeiten, um nach Afghanistan abzuschieben, und das Regime damit notwendigerweise politisch aufwerten und es mutmaßlich auch finanziell erheblich unterstützen (denn es wäre weltfremd, anzunehmen, dass die Taliban sich ihre Kooperation bei Abschiebungen nicht vergüten lassen), ist mir unbegreiflich. Wie dies, gerade vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Situation der Frauen in Afghanistan, mit der von Frau Baerbock ausgerufenen feministischen Außenpolitik zusammenpasst, verstehe, wer will – ich nicht.

EuGH, Urteil vom 04.10.2024, C‑608/22 und C‑609/22


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Consent Management Platform von Real Cookie Banner