Geschlechtsspezifische Verfolgung: Flüchtlingsanerkennung wegen „Zweitbeschneidung“

Ein schönes, rechtskräftiges Urteil gibt es vom Verwaltungsgericht (VG) Münster zu berichten: Die Klägerin ist guineische Staatsangehörige. Sie war vor ihrer Flucht in Guinea zwangsverheiratet worden. Außerdem war „zwangsbeschnitten“ worden. Das Gericht setzt sich ausführlich mit der Situation von Frauen in Guinea auseinander, und kommt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin als Flüchtling anzuerkennen ist.

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Das Gericht wertet die Auskunftslage zu Guinea und die Angaben der Klägerin selbst aus und kommt auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in Guineau „weder auf familiäre Hilfe in Guinea noch auf die Hilfe des in Deutschland lebenden Vaters ihrer Kinder zurückgreifen“ könne. Es lasse sich „weiter nicht feststellen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr hinreichende Hilfe durch Hilfsorganisationen in Guinea erhalten könnte„. Das Gericht kommt daher zu der Schlussfolgerung:

Bei einer Rückkehr nach Guinea müsste sie entweder die Zwangsheirat mit dem älteren Mann fortsetzen oder freiwillig in Guinea eine andere Ehe eingehen, bei der die Gefahr einer weiteren Zwangsbeschneidung besteht.

Das Gericht bewertet die bereits erfolgte Zwangsverheiratung als „Vorverfolgung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der sog. Qualifikationsrichtlinie der EU. Daraus folgt eine Vermutung, dass der Klägerin auch im Falle einer Rückkehr nach Guinea eine entsprechende Verfolgung drohen würde. Dabei dürfte die Frage, dass eine drohende Zwangsverheiratung bzw. das erzwungene Leben in einer erzwungenen Ehe jedenfalls seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16.01.2024, C-621/21, mit der der EuGH unter Bezugnahme auf die Istanbul-Konvention klargestellt hat, dass Zwangsehen als geschlechtsspezifische Gewalt ein Grund für eine Flüchtlingsanerkennung sein können, geklärt sein, sodass die Entscheidung insoweit keine Überraschung darstellt (gleichwohl bezieht sich das VG hier weder auf die Entscheidung des EuGH noch auf die Istanbul-Konvention; offenbar hatte man sich hier schon vor Januar ’24 auf diese Linie festgelegt und hält sie insofern für so selbstverständlich, dass man EuGH und Istanbul-Konvention gar nicht erst zu erwähnen braucht).

Bemerkenswert an der Entscheidung ist vor allem, der Grund, weshalb das Gericht es auch nicht für zumutbar hält, „freiwillig in Guinea eine andere Ehe“ einzugehen (wie „freiwillig“ eine Ehe wäre, die die Klägerin nur eingeht, damit sie und ihre Kinder nicht verhungern, sei einmal dahingestellt).

Denn das Gericht verweist hierbei ausdrücklich auf die Gefahr einer „Zweitbeschneidung“, also auf die Gefahr, dass die Klägerin, obwohl sie bereits „zwangsbeschnitten“ wurde. Das ist deswegen bemerkenswert und erfreulich, weil eine solche Gefahr einer „Zweitbeschneidung“ von Behörden und Gerichten selten als asylrelevante Verfolgungsgefahr anerkannt wird. In der Regel dominiert die Lesart: Wenn eine Frau oder ein Mädchen bereits „beschnitten“ wurde, ist die Verfolgungshandlung (die als solche durchaus weitgehend anerkannt wird) bereits erfolgt; die Gefahr einer Wiederholung wird aber eben gerade nicht mehr gesehen, sodass ein Grund für eine Flüchtlingsanerkennung eben nicht mehr bestehe, denn im Asylverfahren kommt es darauf an, ob noch die Gefahr einer Verfolgung besteht, nicht darauf, ob in der Vergangenheit Verfolgungshandlungen erfolgt sind.

Hier aber meint das Gericht eben, dass der Klägerin, würde sie erneut heiraten wollen, auch eine erneute „Zwangsbeschneidung“ drohen würde. Es führt aus:

Der Gefahr einer Zwangsbeschneidung im Falle einer freiwilligen Eheschließung in Guinea steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin nach ihrem glaubhaften Vortrag bereits zwangsbeschnitten ist. Aus bei der Kammer anhängig gewesenen Verfahren, etwa das Verfahren 4 K 534/18.A, ist dem Einzelrichter bekannt, dass häufiger Männer in Guinea auch dann eine Zwangsbeschneidung vor der Heirat verlangen, wenn die Frau bereits beschnitten worden ist. Diese Einschätzung deckt sich mit den Angaben von Zerm, „Weibliche Genitalverstümmelung. Was müssen Kinder- und Jugendärzte über die genitale Beschneidung von Mädchen wissen? – Zahlen, Daten, Fakten“, in: prädiat. prax 82 (2014), S. 59 (62), abrufbar im Internet. Danach wird in Guinea ebenso wie in Gambia „nicht selten eine Zweitbeschneidung vor einer Hochzeit vorgenommen, wenn im Kindesalter ‚zu wenig‘ beschnitten
worden ist“. […]

Dr. Zerm hat diese Einschätzung in seinem im anhängig gewesenen Verfahren 4 K 3287/19.A vorgelegten fachärztlichen Befundgutachten vom 22. März 2019 und in seinem im Verfahren 4 K 1639/22.A vorgelegten fachärztlichen Befundgutachten vom 6. September 2022 bestätigt. Danach ist die weibliche Genitalverstümmelung besonders in Guinea kein „einmaliger Initiationsritus beim Übergang vom Kind zur Frau“. Vielmehr ist eine Zweitbeschneidung insbesondere vor oder während einer Ehe sehr verbreitet und zwar abhängig von der Willkür des Ehemannes oder anderer Personen. Der Einzelrichter hat keinen greifbaren Anlass, die Richtigkeit der Ausführungen von Dr. Zerm in
Zweifel zu ziehen. Auch die Beklagte, der die Ausführungen von Dr. Zerm aus den bei der Kammer anhängig gewesenen Klageverfahren bekannt sind, hat weder in diesen Verfahren noch im vorliegenden Klageverfahren substantiierte Einwände gegen die ihr bekannten Feststellungen und Schlussfolgerungen von Dr. Zerm vorgetragen.

Droht der Klägerin demnach aber eine „Zweitbeschneidung“ in Guinea, so hat sie auch einen entsprechenden Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Dabei freut es mich auch persönlich, dass sich das Gericht ausdrücklich auf Stellungnahmen von Dr. Zerm, einem mir auch persönlich bekannten Gynäkologen, der sich seit Jahrzehnten unermüdlich engagiert gegen die grausame Praxis der FGM/C einsetzt. Es ist schön, zu sehen, dass sein Engagement auch Früchte trägt (und, rein vorsorglich: Ja, er ist offenbar Anthroposoph, das darf man gerne kritisch sehen, wenn man möchte, es tut seinem Engagement und seinen Verdiensten in diesem Zusammenhang aber keinen Abbruch). Seine vom VG Münster erwähnte Broschüre ist mit einem Update aus 2018 hier zu finden; hierzu sei als Content Note darauf hingewiesen, dass sie einschlägiges Bildmaterial enthält.

VG Münster, Urteil vom 10.05.2024, 4 K 1792/21.A


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