Die Ausländerbehörde (ABH) der Stadt Gelsenkirchen hat sich geweigert, einem iranischen Staatsangehörigen eine Duldung zu erteilen. Sie werfen ihm vor, die Unmöglichkeit der Abschiebung selbst herbeigeführt zu haben, indem er sich geweigert habe, das Flugzeug, mit dem er abgeschoben werden sollte, zu besteigen. Da er es also selbst zu vertreten habe, dass die Abschiebung unmöglich sei, liege kein Fall einer „tatsächlichen Unmöglichkeit“ der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, denn die Abschiebung könne ja jederzeit vollzogen werden, sobald er bereit sei, ein Flugzeug zu besteigen. Das sah das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen in diesem Eilbeschluss jedoch anders und verpflichtete die ABH, eine Duldung zu erteilen.
Weiterlesen: Duldungsanspruch unabhängig vom „Vertretenmüssen“ der Unmöglichkeit der AbschiebungDer Beschluss ist auf verschiedenen Ebenen interessant. Um das vollständig zu durchdringen muss man jedoch ein wenig ausholen.
Zum rechtspolitischen Hintergrund
Bemerkenswert an der Entscheidung ist zunächst, dass sie eine Frage betrifft, die sich so bis vor wenigen Jahren noch gar nicht gestellt hat. Vor, sagen wir mal, rund drei Jahren hätte es einen solchen Beschluss vermutlich gar nicht gegeben, weil die Frage so gar nicht gestellt worden wäre. Bis vor wenigen Jahren war es mehr oder weniger eine Art Automatismus: Entweder wurde abgeschoben, oder, wer nicht abgeschoben wurde, die*der erhielt eine Duldung. Die Frage nach dem Grund für die ausbleibende Abschiebung und die Frage, ob die betroffene Person selbst „schuld“ daran war, dass sie nicht abgeschoben werden kann, wurde dabei zunächst nicht gestellt. Sie spielte möglicherweise eine Rolle für die Frage, ob die Person eine Arbeitserlaubnis bekam oder ob man sie verpflichtete, einen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen und dergleichen Dinge mehr, aber für die Frage, ob eine Duldung erteilt wurde, oder nicht, spielte sie im Prinzip keine Rolle.
Nun ist es aber so, dass eine bestimmte Vorduldungszeit unter Umständen in ein Aufenthaltsrecht münden kann. Bekannte Regelungen in diese Richtung sind §§ 25a, 25b AufenthG. Mit dem „Chancen-Aufenthaltsrecht“ (§ 104c AufenthG), einem migrationspolitischen Leuchtturmprojekt der „Ampel“, wurde dann eine Regelung ins Gesetz eingeführt, die es einem bestimmten Personenkreis, der zu einem bestimmten Stichtag seit fünf Jahren in Deutschland war und geduldet wird, zu einem zumindest temporären Aufenthaltsrecht verhilft, wobei die Frage, warum die Personen nicht abgeschoben werden kann, nur sehr eingeschränkt geprüft wird. Aus Sicht einiger konservativer Jurist*innen war damit eine rote Linie überschritten: Nach ihrer Lesart profitieren auch solche Menschen von dieser Regelung, die selbst die Unmöglichkeit ihrer Abschiebung herbeigeführt haben, was nach ihrem Verständnis letztlich dazu führe, dass rechtswidriges Verhalten mit einem Bleiberecht belohnt würde.
Dieser Sichtweise haben sich zwischenzeitlich auch viele Ausländerbehörden angeschlossen, was praktisch dazu führt, dass Ausländerbehörden sich in vielen Fällen, in denen noch vor wenigen Jahren ganz selbstverständlich eine Duldung erteilt wurde, nunmehr weigern, eine Duldung zu erteilen, um gewissermaßen zu verhindern, dass die Betroffenen in eine derartige Bleiberechtsregelung „hineinwachsen“ können. Bekannt ist eine entsprechende Praxis schon seit einiger Zeit aus Bayern. In Hessen erlangte ein Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) eine gewisse traurige Bekanntheit, mit dem der VGH entschieden hat, dass eine Duldung regelmäßig erst erteilt werden muss, wenn die Abschiebung nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt werden kann.
In NRW hat sich diese Praxis bis jetzt jedenfalls noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Auch das macht die vorliegende Entscheidung spannend, denn sie zeigt, dass auch hierzulande erste Ausländerbehörden diese Praxis übernehmen, aber auch, dass sie hierbei (noch?) auf Widerstand auf Seiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit stoßen.
Denn auch das Gericht macht sich die genannten, von konservativer Seite vorgebrachten Bedenken dem Grunde nach zu eigen, wenn sie schreiben:
Die Kammer verkennt nicht die erheblichen Bedenken, die es hervorruft, wenn durch die Weigerung, das Abschiebeflugzeug zu betreten, die Abschiebung scheitert und damit die Durchsetzung der Ausreisepflicht vereitelt wird. Dieser Umstand führt zu einer „Privilegierung“ des sich bewusst gegen das Gesetz – namentlich gegen die Ausreisepflicht aus § 58 Abs. 2 AufenthG – stellenden Ausländers. Rechtswidrige Zustände werden manifestiert und Gesetzesverstöße im Ergebnis honoriert.
Im Ergebnis meint das Gericht jedoch, dass es hierauf nicht ankomme, denn der Duldungsanspruch hänge gerade nicht davon ab, ob die*der Betroffene die Unmöglichkeit der Abschiebung selbst zu vertreten habe:
Soweit in der Literatur vertreten wird, der Duldungsgrund der tatsächlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung greife nicht zugunsten derjenigen Ausländer, die in zumutbarer Weise die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise tatsächlich haben und diese Möglichkeit in vorwerfbarer Weise nicht wahrnehmen,
so BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach, 45. Ed. 1.10.2024, AufenthG § 60a Rn. 11,
würde dies dem Sinn und Zweck des Instituts der Duldung nicht gerecht. Denn es soll verhindert werden, dass ein Ausländer, der nicht abgeschoben werden kann, rechtlich und tatsächlich in eine gesetzesfreie Grauzone fällt.
Vgl. Bergmann/Dienelt/Dollinger, 15. Aufl. 2025, AufenthG § 60a Rn. 23.
Dies hat auch Niederschlag im Gesetz gefunden. Nach § 60a Abs. 2a Satz 1 AufenthG wird die Abschiebung eines Ausländers für eine Woche ausgesetzt, wenn seine Abschiebung gescheitert ist, Abschiebungshaft nicht angeordnet wird und die Bundesrepublik Deutschland auf Grund einer Rechtsvorschrift zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Voraussetzung ist hier gerade nicht, dass die Abschiebung aus nicht vom Antragsteller zu vertretenden Gründen gescheitert ist.
Mithin besteht ein Duldungsanspruch unabhängig davon, ob die*der Betroffene selbst „schuld“ daran ist, dass ihre*seine Abschiebung unmöglich ist. Die Tatsache, dass die Abschiebung unmöglich ist als solche, genügt bereits für den Duldungsanspruch.
Zur Durchführbarkeit von Abschiebungen in den Iran
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen in dem Beschluss, die die Durchführbarkeit von Abschiebungen in den Iran betreffen. Das Gericht zitiert aus einer internen E-Mail und einer Stellungnahme der ABH:
Da seitens der Bundespolizei aufgrund der diplomatischen Verwerfungen mit dem Iran keine Sicherheitsbegleitungen vorgenommen werden, schieden vorliegend Anschlussmaßnahmen wie bspw. eine Sicherungshaft aus, da diese letztlich nicht zielführend wären. (…)
Eine Aufenthaltsbeendigung wird auf absehbare Zeit nicht möglich sein.
Die Ausländerbehörden stoßen somit bereits durch die simple Äußerung einer Flugunwilligkeit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zur Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht.
Rückführungen in den Iran sind unter diesen Voraussetzungen quasi nicht umsetzbar.
Und weiter:
Für die Durchführung der Abschiebung wäre eine sicherheitsbegleitete Abschiebung erforderlich. Aufgrund der anhaltenden diplomatischen Spannungen mit dem Iran werden derartige Rück-
führungen derzeit jedoch bundesweit nicht umgesetzt.
Die Rückführungskoordinationsstelle der Bezirksregierung Münster wurde über die bestehende Vollzugsproblematik mit Mitteilung vom 20.11.2024 bereits in Kenntnis gesetzt.
Seitens der zuständigen Stellen wird aktuell an einer tragfähigen Lösung zur Ermöglichung der Rückführung gearbeitet.
Praktisch heißt das: Weil die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran so schlecht sind, wie sie eben sind, lässt der Iran es nicht zu, dass deutsche Polizist*innen Abschiebungen dorthin begleiten. Das führt praktisch dazu, dass Abschiebungen in den Iran praktisch kaum möglich sind, wenn die*der Betroffene nur deutlich formuliert, dass sie*er sich weigert, sich abschieben zu lassen.
Nun läge mir als rechtstreuem Bürger und Organ der Rechtspflege selbstverständlich nichts ferner, als Menschen zu rechtswidrigem Verhalten anzuhalten. Aber es mag ja Menschen geben, für die das eine interessante Information sein könnte.
Ist die Entscheidung rechtskräftig?
Ausgehend von der dem Beschluss beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig. Die ABH hat demnach zwei Wochen Zeit, Beschwerde gegen den Beschluss einzulegen, die innerhalb eines Monats begründet werden muss. Über diese Beschwerde muss dann das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW entscheiden. Hierzu ist jedoch zunächst zu sagen, dass die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hat, und die ABH, solange das OVG nicht ausdrücklich etwas anderes entscheidet, trotzdem dazu verpflichtet ist, die Duldung zu erteilen.
Vor allem aber muss bezweifelt werden, ob die Rechtsmittelbelehrung überhaupt richtig ist. Es spricht einiges dafür, dass der Beschluss unter den von der „Ampel“ ausgeweiteten Ausschluss der Beschwerde nach § 80 AsylG fällt, sodass der Beschluss unanfechtbar und damit rechtskräftig sein dürfte.
Zusammenarbeit deutscher Behörden mit faschistischen Regimen
Das alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, was der eigentliche Skandal ist: Dass überhaupt in ein Land wie dem Iran, das von Faschisten regiert wird, abgeschoben werden. Denn derartige Abschiebungen setzen immer ein Mindestmaß an Zusammenarbeit mit den dortigen Stellen voraus. Das gilt für den Iran, wie für Afghanistan: Man ist bereit, mit faschistischen Regimen zusammenzuarbeiten, um die eigene menschenfeindliche und politisch unsinnige Agenda durchzusetzen, was faktisch immer eine Aufwertung dieser Regime darstellt.
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.11.2025, 8 L 1526/25 (Beschluss im aufenthaltswiki)
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