Nur wenige Dinge haben in der deutschen asylrechtlichen Community für so viel Aufsehen gesorgt, wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie). Dabei sind die konkreten Auswirkungen dieser Rechtsprechung im Detail bis heute ungeklärt und strittig, und für Außenstehende daher noch einmal komplizierter zu fassen. Mit einer Detailfrage hatte sich das VG Minden jetzt zu befassen, und hat zumindest im Rahmen eines Eilbeschlusses nunmehr im Sinne der Antragsteller*innen entschieden, dass diese Rechtsprechung auch Anwendung findet, wenn ein Kind aufgrund seines Asylverfahrens noch in der Aufenthaltsgestattung ist.
Weiterlesen: Auch ein Kind mit Aufenthaltsgestattung hat ein KindeswohlinteresseDer EUGH, das BAMF und die „Rückkehrentscheidungen“
Um diese Entscheidung zu verstehen, muss man wieder mal ein bisschen ausholen. Aus § 34 AsylG folgt, dass das BAMF grundsätzlich eine Abschiebungsandrohung zu erlassen hat, wenn es einen Asylantrag ablehnt. Unionsrechtlich gesprochen handelt es sich hierbei um eine sog. Rückkehrentscheidung. In Deutschland handelte es sich hierbei lange Zeit um einen vermeintlich selbstverständlichen Automatismus: Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, wird halt eine Abschiebungsandrohung erlassen.
Dann kam der Europäische Gerichtshof und hat diesem vermeintlichen Automatismus unter Berufung auf die Rückführungsrichtlinie einen Riegel vorgeschoben. Besondere Bedeutung erlangte hierbei der Beschluss vom 15.02.2023, C-484/22, aus dem sich ergibt, dass Kindeswohlbelange und familiäre Bindungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, bereits bei Erlass einer Rückkehrentscheidung berücksichtigt werden müssen. Im deutschen Migrationsrecht handelte es sich um einen echten Systembruch, denn bis dahin entsprach es deutschen Praxis, auch in diesen Fällen eine Abschiebungsandrohung zu erlassen, und es dann der Ausländerbehörde (ABH) zu überlassen, die Abschiebung in diesen Fällen auszusetzen und etwa eine Duldung zu erteilen, wenn die Abschiebung aufgrund familiärer Bindungen nicht möglich sein sollte.
Durch die neuen Vorgaben des EuGH ist jetzt nicht nur das BAMF selbst verpflichtet, sich mit Kindeswohl und familiären Bindungen zu befassen, sondern auch die Verwaltungsgerichte müssen sich mit diesen Fragen befassen, wenn sie einen Bescheid des BAMF überprüfen.
Detailfragen
Wie so häufig, wenn der EuGH etwas entscheidet, werfen seine Entscheidungen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Eine Frage, die in der Rechtsprechung noch uneinheitlich beantwortet wird, ist die, ob eine Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung erlassen werden darf, wenn die Person, auf die sich die familiären Bindungen bzw. die Kindeswohlinteressen beziehen, selbst „nur“ eine Aufenhaltsgestattung besitzt. Eine Aufenthaltsgestattung ist kein Aufenthaltstitel, die einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet, sondern es handelt sich um eine Art vorläufigen Aufenthalt zum Zwecke der Durchführung eines Asylverfahrens.
Das VG Düsseldorf hat kürzlich im Falle eines Mannes aus Syrien, der eine Ehefrau und ein gemeinsames Kind mit Aufenthaltsgestattung hat, entschieden, dass eine Aufenthaltsgestattung nur ein „lediglich vorübergehendes, zeitlich ungefähr eingrenzbares Hindernis für eine Abschiebung“ (Beschluss vom 04.11.2025, 17 L 3613/25.A, Rn. 142) sei, welches dem Erlass einer Abshiebungsandrohung nicht entgegenstehe.
Dies sieht das VG Minden hier dezidiert anders. Der Beschluss betrifft unmittelbar zwei Eltern und ein gemeinsames Kind. Dann wurde jetzt noch ein Sohn geboren, für den ebenfalls ein Asylantrag gestellt wurde, und der eine Aufenthaltsgestattung besitzt. Das Gericht führt aus:
Da sich ein Sohn der Antragsteller zu 1) und 2) noch im laufenden Asylverfahren befindet, verfügt er über eine Aufenthaltsgestattung für die Bundesrepublik Deutschland (§ 55 Abs. 1 Satz 1, § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG). Er verfügt zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über ein, zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG normiert nicht die Art des Bleiberechts des zu berücksichtigenden Familienmitglieds, insbesondere ist nicht geregelt, ob es sich um ein dauerhaftes oder gefestigtes Bleiberecht handeln muss.
Besonders schön an dem Beschluss ist, dass das Gericht die grundrechtliche Dimension des Falles, den Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 GG, herausarbeitet, und herausstreicht, dass gerade bei jungen Kindern eine auch nur vorübergehende Trennung „zu emotionalen Schäden bei allen Familienmitgliedern“ führen würde. Kleinkinder würden „den (möglicherweise) nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung von einem Elternteil nicht begreifen können und diese Trennung rasch als endgültigen Verlust erfahren“. Dass das das Gericht diesen Aspekt so betont, ist auch deswegen schön, weil sich diese Erkenntnis, wie die Erfahrung aus diversen aufenthaltsrechtlichen Verfahren, die die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen zum Zwecke der Familienzusammenführung betreffen, noch längst nicht bei allen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichtsgerichten herumgesprochen hat.
Die Auffassung des VG Minden verdient eindeutig den Vorzug. Die Entscheidung des VG Düsseldorf wirkt eher an politischen Interessen, alsbald Abschiebungen nach Syrien aufnehmen zu können, orientiert. Dies schon deswegen, weil im Grunde gar nicht klar ist, ob es sich bei einer Aufenthaltsgestattung wirklich nur um ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht handelt. Das weiß man ja erst nach Abschluss des Asylverfahrens, das sich ggf. über mehrere Jahre hinziehen kann. Wenn also schon ein Gericht darauf abstellen möchte, müsste es bei Familienangehörigen, die eine Aufenthaltsgestattung für ein Asylverfahren besitzen, konsequenterweise die Erfolgsaussichten von deren Asylantrag prüfen – was regelmäßig aus diversen Gründen praktisch gar nicht möglich sein dürfte. Dann kann aber die einzig richtige Konsequenz aus dem vom EuGH mehrfach angemahnten Schutz des Kindeswohls und familiärer Bindungen nur diejenige sein, dass jedenfalls bis zum Abschuss der Asylverfahren aller Familienangehörigen gegen keine*n von ihnen eine Abschiebungsandrohung ergehen darf.
VG Minden, Beschluss vom 19.11.2025, 12 L 1178/25.A (Beschluss im Aufenthaltswiki)
Schreibe einen Kommentar