EuGH zu Folgeanträgen: Ein Urteil und seine (Nicht-)Konsequenzen

Am Donnerstag verkündete der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein aufsehenerregendes Urteil. In der Überschrift der Pressemitteilung heißt es: „Ein Urteil des Gerichtshofs kann einen neuen Umstand darstellen, der eine erneute Prüfung eines Asylantrags in der Sache rechtfertigt“. Über die Entscheidung berichteten beispielsweise LTO und Pro Asyl. Leider habe ich ein wenig die Befürchtung, dass diese Berichterstattung auch falsch verstanden werden und geeignet sein könnte, zu hohe Erwartungen an die Auswirkungen dieses Urteils zu wecken. Deswegen sehe ich mich veranlasst, an dieser Stelle eine kurze Einordnung der Entscheidung vorzunehmen, mit einigen Hinweisen, was aus dieser Entscheidung folgt, und was nicht.

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Der Folgeantrag an sich und als solcher

Wer in Deutschland schon mal einen Asylantrag gestellt hat, kann prinzipiell jederzeit später erneut einen Asylantrag stellen. Das Spiel nennt sich dann Folgeantrag, und es ist geregelt in § 71 AsylG. Ein solcher Folgeantrag kann etwa dem Ziel dienen, eine erneute Prüfung des Asylbegehrens zu erwirken, wenn der erste Asylantrag abgelehnt wurde. Er kann aber auch mit dem Ziel gestellt werden, eine Verbesserung des Schutzstatus zu erreichen. Wenn ich also beispielsweise im Erstverfahren „nur“ ein Abschiebungsverbot oder den subsidiären Schutz bekam, aber als „politischer Flüchtling“ oder auch als asylberechtigt anerkannt werden möchte, kann ich auch zu diesem Behufe einen Folgeantrag stellen.

Ein Folgeantrag wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einem zweistufigen Programm geprüft. Zunächst prüft das BAMF, ob überhaupt ein neues Asylverfahren durchgeführt werden soll. Hierfür verweist § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG derzeit noch auf § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG. Das wird sich wohl in Kürze ändern, aber das tut an dieser Stelle nicht viel zur Sache. § 51 VwVfG regelt das Wiederaufgreifen im Verwaltungsverfahren. Demzufolge liegt ein Wiederaufgreifensgrund gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor, wenn sich die „Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat“. Auch neue Beweismittel können einen Wiederaufgreifensgrund darstellen (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG). Wie gesagt, wird der Verweis auf diese Vorschrift wohl bald gestrichen und durch eine andere, eher am Europarecht orientierte Formulierung ersetzt. Das dürfte an der Rechtslage, soweit für diesen Artikel relevant, in der Sache aber nicht viel ändern.

Wenn das BAMF auf dieser ersten Stufe zu dem Ergebnis kommt, dass ein neues Asylverfahren durchgeführt werden soll, wird das Asylbegehren erneut inhaltlich geprüft. Ob dann auch wirklich ein (besserer) Schutzstatus zuerkannt wird, hängt dann freilich vom Ergebnis dieser Prüfung ab. Das Ergebnis einer inhaltlichen Prüfung kann freilich auch sein, dass der Folgeantrag auch nach inhaltlicher Prüfung abgelehnt wird.

Beispiel: Alice ist lesbisch und befürchtet deswegen Verfolgung in ihrem Herkunftsland. Im Erstverfahren wurde ihr nicht geglaubt, dass sie lesbisch sei. Der Antrag wurde deswegen abgelehnt. Jetzt hat sie eine Partnerin, die ihr als Zeugin für ihre Homosexualität zur Verfügung steht. Damit hat sie ein neues Beweismittel, nämlich eine Zeugin. Das BAMF müsste den Asylantrag also erneut prüfen. Das heißt aber nicht, dass Alice jetzt auch als Flüchtling anerkannt werden müsste. Wenn das BAMF beispielsweise der Ansicht sein sollte, dass die Zeugin lügt oder lesbischen Frauen in Alices Herkunftsland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, würde das BAMF den Asylantrag erneut ablehnen.

Ist das BAMF hingegen der Auffassung, dass kein Wiederaufgreifensgrund vorliegt, so würde der Folgeantrag als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG abgelehnt.

Der Streit, der zu der Entscheidung des EuGH geführt hat, entzündet sich jetzt an der Formulierung „neue Sach- oder Rechtslage“, namentlich an der Frage: „Was ist eine neue Rechtslage?“ Wenn das Gesetz geändert wird, ist es klar, dann gibt es eine neue Rechtslage. Wie ist es aber, wenn sich „nur“ die Rechtsprechung ändert? Haben wir dann eine neue Rechtslage oder nur eine neue Interpretation der Rechtslage? Bis jetzt wurde das Vorliegen einer neuen Rechtslage verneint, sodass neue höchstrichterliche Entscheidungen nicht ohne Weiteres dazu führten, dass Menschen zulässige Asylanträge stellen und so eine erneute Prüfung ihres Asylbegehrens erwirken konnten. Selbst wenn ihnen also auf der Grundlage der geänderten Rechtsprechung ein (besserer) Schutzstatus hätte zuerkannt werden müssen, wurden ihre Asylanträge mangels Wiederaufgreifensgrundes als unzulässig abgelehnt.

Hierzu entschied der EuGH jetzt:

Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der [Asylverfahrensrichtlinie]

sind dahin auszulegen, dass

jedes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, und zwar auch ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war, unabhängig von seinem Verkündungsdatum einen neuen Umstand bzw. ein neues Element im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.

EuGH, Urteil vom 08.02.2024, C-216/22, Rn. 68

Damit ist geklärt, dass Entscheidungen des EuGH zukünftig als Wiederaufgreifensgrund in Betracht kommen (ehrlich gesagt frage ich mich, ob da überhaupt jemand außerhalb Deutschlands auf die Idee gekommen wäre, das zu bezweifeln).

Die Sache mit den syrischen Kriegsdienstverweigerern

Konkret ging es um einen syrischen Kriegsdienstverweigerer. Der Umgang mit dieser Personengruppe beschäftigt die Verwaltungsgerichte jetzt seit knapp zehn Jahren und ist bis heute nicht abschließend geklärt. Zum Teil wird auch noch mal differenziert zwischen Personen, die ihre Einberufung befürchten, und solchen, die aus dem aktiven Kriegsdienst desertiert sind, aber so sehr müssen wir an dieser Stelle gar nicht ins Detail gehen.

Jedenfalls war die Rechtsprechung so um 2016, 2017 herum äußerst uneinheitlich. Es war wahrlich Glückssache, bei welcher*welchem Einzelrichter*in man landet, wie die Verfahren ausgingen. Ich erinnere mich an Brüder, die praktisch dieselbe Fluchtgeschichte vortrugen. Der eine wurde als Flüchtling anerkannt, der andere bekam nur subsidiären Schutz. Jedenfalls hat sich das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW bereits ziemlich früh auf den Standpunkt gestellt, dass Kriegsdienstverweigerung für sich genommen kein Grund ist, syrischen Männern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (OVG NRW, U. v. 04.05.2017, 14 A 2023/16.A). In anderen Bundesländern wurde dies zunächst teilweise noch anderes gesehen, wodurch sich bundesweit zunächst ein sehr uneinheitliches Bild ergab. Es war buchstäblich Glückssache, in welchem Bundesland ein Mann aus Syrien im kriegsdienstfähigen Alter landete, ob er als Flüchtling anerkannt wurde, oder ob er „nur“ den subsidiären Schutzstatus bekam. Mit weitreichenden Konsequenzen, insbesondere für die Frage, ob er seine Familie nach Deutschland nachholen darf. Bei LTO gibt es einen Überblick zur damaligen Situation im Mai 2018. In der Folgezeit hatte sich in der Rechtsprechung jedoch die eher restriktive Auffassung weitgehend durchgesetzt.

Ein Funke Hoffnung

Hoffnung machte dann das Urteil des EuGH vom 19.11.2020, C-238/19. Dort entschied der EuGH in Bezug auf syrische Kriegsdienstverweigerer:

Allerdings spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.

EuGH, Urteil vom 19.11.2020, C-238/19, Rn. 62

Mit dieser eher kryptischen Formulierung stellte der EuGH klar, dass Männern aus Syrien im kriegsdienstfähigen Alter regelmäßig politische Verfolgung in Syrien droht – oder zumindest gedroht hat. Dementsprechend wurde die Entscheidung auch nahezu euphorisch begrüßt. Bei LTO beispielsweise hieß es:

Wehrpflichtige syrische Flüchtlinge bekommen nur den subsidiären Schutzstatus, entschieden die meisten der deutschen OVG. Der EuGH setzt dem nun ein Ende: Solche Menschen bekommen Flüchtlingsstatus zuerkannt.

LTO vom 19.11.2020, „EuGH zum Schutzstatus von Syrern: Vorm Wehr­di­enst kann man flüchten“, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-urteil-c-23819-wehrpflicht-fluechtlinge-voraussetzungen-asyl-ovg-deutsche-rechtsprechung/

Ich kann es verstehen, ich sah es damals vermutlich genauso. Leider erwies sich diese Bewertung als voreilig. Tatsächlich ist die Entscheidung nämlich im Wesentlichen wirkungslos verpufft. Das OVG NRW hat bereits ein halbes Jahr später klargestellt, welche Konsequenzen es aus dieser Entscheidung zieht: Gar keine. Auch in Ansehung der Rechtsprechung des EuGH hält das OVG NRW an seiner Rechtsprechung, dass syrische Kriegsdienstverweigerer nicht ohne Weiteres als Flüchtlinge anerkannt werden, fest (Urteil vom 22.05.2021, 14 A 3439/18.A).

Soweit mir bekannt, entspricht diese Linie leider auch der ganz überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung. Die einzige, mir bekannte Ausnahme ist das OVG Berlin-Brandenburg, das seine frühere Rechtsprechung aufgab und die Flüchtlingseigenschaft zuerkannte (vgl. z.B. Urteil vom 29.01.2021, OVG 3 B 108.18). Indes hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) diese Entscheidungen aufgehoben und die Verfahren an das OVG Berlin-Brandenburg zurückverwiesen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 19.01.2023, 1 C 1/22). Wie das OVG Berlin-Brandenburg mit dieser Situation jetzt umgehen wird, ist derzeit offen. Man kann darauf hoffen, dass das OVG an seiner Linie im Ergebnis festhalten wird und die Begründung nachbessert. Klar ist aber auch, dass das BAMF die Entscheidungen dann erneut anfechten und vor das BVerwG bringen würde.

Und was heißt das jetzt?

Nach der Entscheidung des EuGH aus November 2020 wollten viele Männer aus Syrien Folgeanträge stellen. Immerhin schien klar zu sein, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zu Unrecht verweigert wurde. Darauf folgte Enttäuschung: Soweit die Folgeanträge nicht schon als unzulässig abgelehnt wurden, weil das BAMF erst gar keinen Wiederaufgreifensgrund erkennen können wollte, wurden sie, jedenfalls in NRW und den allermeisten anderen Bundesländern, abgelehnt, weil man hier eben an der Auffassung, dass die Flucht vor dem Kriegsdienst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ohne weiteres rechtfertige, festhielt.

Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass die Berichterstattung über das aktuelle Urteil des EuGH geeignet sein könnte, ähnliche Hoffnungen zu wecken, die dann enttäuscht werden. Aus der Entscheidung des EuGH folgt ja lediglich, dass die Folgeanträge nicht als „unzulässig“ abgelehnt werden dürfen, sondern dass eine erneute inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens erfolgen muss. Sie geben gerade kein Ergebnis der inhaltlichen Prüfung vor. Sie hindern das BAMF also nicht daran, zu sagen: Na, gut, dann führen wir jetzt halt ein neues Asylvefahren für dich durch, an dessen Ende aber das Ergebnis steht, dass wir deinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erneut ablehnen. Mit anderen Worten, jedenfalls in NRW wird diese Entscheidung in Bezug auf die Gruppe der syrischen Kriegsdienstverweigerer ebenfalls weitgehend wirkungslos verpuffen.

Das muss so nicht bleiben. Sollte sich das OVG Berlin-Brandenburg mit seiner Auffassung beim BVerwG durchsetzen können, käme möglicherweise noch mal Bewegung in die Sache, weil dann auch die anderen Obergerichte gezwungen sein könnten, ihre Rechtsprechung zu überprüfen. Ggf. könnte dies dann ein geeigneter Zeitpunkt für einen Folgeantrag sein. Das ist aber derzeit überhaupt nicht absehbar. Ebenso wäre denkbar, dass es später noch mal eine erneute Entscheidung des EuGH geben könnte, in der dieser seine eigene Rechtsprechung zu syrischen Kriegsdienstverweigerern nachschärft.

Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich von Folgeanträgen aber eher abraten. Sie werden voraussichtlich unter Hinweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung abgelehnt werden. Selbst wenn zu einem späteren Zeitpunkt mal eine Änderung dieser Rechtsprechung erzwungen werden sollte, ist doch fraglich, ob man hierin dann einen ausreichenden Grund für ein erneutes Asylverfahren sehen wird. Soweit sich ein solcher Grund aus der Rechtsprechung des EuGH herleiten lässt, was zumindest in den Fällen der Fall sein dürfte, wo die Folgeanträge der syrischen Kriegsdienstverweigerer nach November 2020 als „unzulässig“ abgelehnt wurde, dürfte es sinnvoll sein, sich diesen Grund für einen Zeitpunkt aufzusparen, wo ein solcher Antrag auch inhaltlich realistische Erfolgsaussichten hat. Die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG hat der EuGH ja schon im September 2021 gecancelt.

P.S.: In dem Urteil des EuGH geht es auch noch um eine andere Frage, die das verwaltungsgerichtliche Verfahren nach einem Folgeantrag betreffen. Wenn ich später noch Lust und Zeit habe, werde ich vielleicht auch noch was dazu schreiben. Da diese Frage allerdings deutlich weniger Relevanz für die Beratung besitzen dürfte und dieser Artikel jetzt auch so schon wieder lange genug geworden ist, bitte ich um Verständnis dafür, dass ich für den Moment davon absehe, und mir lieber noch eine Tasse Kaffee hole.


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Kommentare

2 Antworten zu „EuGH zu Folgeanträgen: Ein Urteil und seine (Nicht-)Konsequenzen“

  1. Avatar von Andreas Moser

    Die Tasse Kaffee hast du dir mit dieser ausführlichen, aber gut verständlichen Erläuterung absolut verdient!

    Leider ist meine Erfahrung, dass man noch so viel und seriös vor überzogenen Erwartungen warnen kann. Selbst wenn die Leute die Warnung lesen, glauben sie meist, dass just in ihrem Fall eine Ausnahme vorläge und dass es bei ihnen doch ginge.

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