Kein „Flüchtigsein“ ohne Bescheid

Im Dublin-Verfahren gilt grundsätzlich eine Überstellungsfrist von sechs Monaten. Das heißt, wenn die*der Betroffene nach sechs Monaten nicht überstellt wurde, darf sie*er auch nicht mehr überstellt werden, und die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages geht auf die Bundesrepublik Deutschland über. Sie*er bekommt ihr*sein Asylverfahren dann also in Deutschland. Allerdings kann diese Überstellungsfrist unter Umständen unterbrochen oder auch verlängert werden. So regelt Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO, dass die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängert werden kann, wenn die*der Betroffene „flüchtig“ ist. Doch kann jemand „flüchtig“ sein, die*der gar nicht weiß, dass sie*er abgeschoben werden soll, weil noch gar kein Bescheid existiert?

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Mit dieser Frage hatte sich das VG Münster in einem Eilverfahren auseinanderzusetzen, und kommt zu einer eindeutigen Antwort. Der Antragsteller war in einer „Zentralen Unterbringungseinrichtung“ (ZUE) das Landes NRW untergebracht. Die für diese ZUE zuständige „Zentrale Ausländerbehörde“ (ZAB) hatte den Antragsteller aus Gründen, die sich anhand der Akte nicht nachvollziehen lassen, abgemeldet, und zwar zu einem Zeitpunkt, als der Dublin-Bescheid noch überhaupt gar nicht existierte (merkwürdigerweise war offenbar eine postalische Erreichbarkeit dennoch permanent gegeben, wie das zusammenpassen soll, weiß ganz allein die ZAB). Das Gericht ging der Frage, ob die Abmeldung des Antragstellers im konkreten Fall nun berechtigt war, oder nicht, jedoch nicht nach, sondern stellte grundsätzlich klar, dass eine wirksame Verlängerung der Überstellungfrist voraussetze, dass eine entsprechende Überstellungsentscheidung bereits ergangen und die*der Betroffene auch Kenntnis davon besitzen muss. Dies begründet das Gericht mit systematischen Erwägungen auch den Vorgaben des EuGH, die es weder in objektiver, noch und vor allem nicht in subjektiver Hinsicht als erfüllt ansieht:

Unabhängig hiervon fehlt jedenfalls das erforderliche subjektive Element des Flüchtig-Seins. Voraussetzung ist insoweit der Wille der betroffenen Person, sich den zuständigen Behörden und damit der eigenen Überstellung bewusst und gezielt zu entziehen.


Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, juris, Rn. 56.


Eine Entziehungsabsicht kann jedoch regelmäßig nicht angenommen werden, wenn die Abschiebungsanordnung noch nicht an die betroffene Person zugestellt worden ist und diese folglich noch keine Kenntnis von der später erlassenen Überstellungsentscheidung haben konnte. Denn die Absicht, sich der bevorstehenden Überstellung zu entziehen, setzt denknotwendig die Kenntnis von der vollziehbaren Ausreisepflicht voraus. In Betracht käme dann allenfalls ein – nicht ausreichender – bedingter Vorsatz der betroffenen Person in Bezug auf eine möglicherweise in der Zukunft ergehende Überstellungsentscheidung.


Vgl. hierzu VG Trier, Urteil vom 8. September 2021 – 7 K
824/21.TR –, juris, Rn. 22; VG Dresden, Urteil vom 6. Mai
2024 – 5 K 146/24.A –, juris, Rn. 35.

VG Münster, Beschluss vom 28.10.2024, 10 L 927/24.A


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