Keine Dublin-Abschiebung einer älteren Frau nach Kroatien, deren Tochter in Deutschland lebt

Sperriger Titel, aber der Fall, von dem ich heute berichte, ist auch ein wenig speziell: Die Klägerin, um die es geht, ist auch ein wenig speziell. Die Klägerin ist eine knapp 70 Jahre alte Frau, die unter diversen behandlungsbedürftigen Krankheiten leidet. Sie war über Kroatien nach Deutschland eingereist. In Deutschland hatte sie explizit keinen Asylantrag gestellt, in Kroatien aber eben schon, obwohl sie nicht vorhatte, dort zu bleiben. Dass so etwas passiert, ist keineswegs ungewöhnlich. Die Behörden in den Staaten, durch die die Leute durchreisen, lassen sie halt oft irgendwelche Papiere unterschreiben, deren Inhalt sie oft gar nicht verstehen. Jedenfalls zog sie alsbald weiter zu ihrer (volljährigen) Tochter, die in Deutschland lebt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ordnete sodann ihre Abschiebung nach Kroatien im Dublin-Verfahren an.

Aufgriffsfälle

Als Erstes mag man sich fragen können, warum in Deutschland kein Asyl beantragt wurde, und wie das BAMF dann trotzdem die Abschiebung anordnen kann.

Zur 1. Frage ist zu sagen, dass Asylverfahren in Deutschland ganz bewusst und mit voller Absicht ungemütlich ausgestaltet wurden. Dahinter steckt eine gewisse Abschreckungslogik, es soll halt keinen Spaß machen, in Deutschland Asyl zu beantragen. Die Idee ist, dass dann nur Leute Asyl beantragen, die auch wirklich gute Gründe dafür haben. Zu dieser Logik und der notwendigen Kritik daran, ließe sich freilich allerhand sagen, aber das ist jetzt hier nicht unser Thema. Wesentlicher Bestandteil dieser Logik ist jedenfalls die in § 47 AsylG geregelte Verpflichtung, in Aufnahmeeinrichtungen, auch als Camps bezeichnet, zu wohnen. Diese Verpflichtung trifft auch Menschen, die die Möglichkeit hätten, bei Freund*innen oder Verwandten zu wohnen.

Hierzu sei ein kleiner, politischer Einschub gestattet: Es ist freilich auch interessant, dass man gleichzeitig Menschen, die nicht darauf angewiesen sind, dazu verpflichtet, in Camps zu leben, während man sich aber andererseits aber lauthals über die Auslastung der Camps und die damit verbundenen Kosten beschwert. Dabei könnte man ja durchaus wenigstens ein bisschen Entlastung erreichen, indem man solchen Leuten, die gar nicht darauf angewiesen sind, eine Wohnsitznahme außerhalb der Camps ermöglicht. Aber in diesen Zeiten kann Entlastung von Kommunen und Ländern offenbar nicht gedacht werden, wenn sie nicht gleichzeitig mit zusätzlicher Schikane der Betroffenen einhergeht. (Tatsächlich erinnere ich mich, das auch mal irgendwo gelesen zu haben, dass ein Vorschlag in diese Richtung gemacht worden ist, aber da ich jetzt schon länger nichts mehr davon las, nehme ich an, dass dieser Vorschlag als nicht ausreichend schikanös verworfen worden ist.)

Wenn man nun also Fälle wie den vorliegenden hat, wo es der Betroffenen eben gerade darum ging, zu ihrer Tochter zu kommen, damit diese sich um sie kümmern kann, ist ein Asylverfahren zu vermeiden, denn die Verpflichtung zur Wohnsitznahme im Camp würde ja eine zumindest vorübergehende Trennung von ihrer Tochter bedeuten. Man versucht dann, stattdessen eine Lösung direkt bei der Ausländerbehörde zu erreichen, indem man beispielsweise eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 oder 5 AufenthG oder notfalls eine Duldung (§ 60a AufenthG) beantragt.

Da Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO die Einleitung eines Dublin-Verfahrens davon abhängig macht, dass ein Antrag auf internationaler Schutz gestellt wird, kann ein weiterer Grund, keinen Asylantrag zu stellen, darin liegen, ein Dublin-Verfahren zu vermeiden. Dabei gibt es einige Dinge, die man beachten muss, aber das würde an dieser Stelle zu weit führen. Was allerdings von Bedeutung ist, ist, dass es für die Frage, ob ein Dublin-Verfahren eingeleitet wird, nicht darauf ankommt, ob ein Asylantrag in Deutschland gestellt wurde. Das Dublin-Verfahren wird bereits eingeleitet, wenn überhaupt irgendwo in einem Land, das am Dublin-Verfahren teilnimmt, ein Asylantrag gestellt wurde. Wenn diese Person dann weiterzieht in ein anderes Land und dort keinen Asylantrag stellt, bezeichnet man dies als „Aufgriffsfall“. Die Dublin III-VO sieht hierfür in Art. 24 eigene Regelungen vor. Im deutschen nationalen Recht findet sich eine Grundlage für den Erlass einer Abschiebungsanordnung in diesen Fällen in § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG.

Abhängige Personen

Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht (VG) den Bescheid hier aufgehoben. Dafür führt es zwei Gründe an, die die Entscheidung, wie es heißt, jeweils selbstständig tragen. Zum einen betrachtet es die Klägerin als eine abhängige Person im Sinne des Art. 16 Dublin III-VO, indem es ausführt:

Nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-Verordnung gilt: Ist ein Antragsteller wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, schwerer Krankheit, ernsthafter Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung seines Kindes, eines seiner Geschwister oder eines Elternteils, das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, angewiesen oder ist sein Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil, das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, auf die Unterstützung des Antragstellers angewiesen, so entscheiden die Mitgliedstaaten in der Regel, den Antragsteller und dieses Kind, dieses seiner Geschwister oder Elternteil nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat, das Kind, eines seiner Geschwister oder der Elternteil in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen und die betroffenen Personen ihren Wunsch schriftlich kundgetan haben.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Tochter der Klägerin, hält sich rechtmäßig mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG in Deutschland auf. Aus dem vorgelegten Attest des Arztes […] ergibt sich, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen auf die Unterstützung ihrer Tochter angewiesen ist. Hiernach ist die Klägerin […] deutlich in Ihrer Mobilität eingeschränkt und somit auf fremde Hilfe bezüglich Hausarbeiten, Waschen und Essenszubereitung angewiesen. Sie ist aufgrund ihrer Erkrankungen nicht in der Lage, den Alltag alleine zu führen. Ihre in der Bundesrepublik Deutschland lebende Tochter übernimmt neben Alltagsaufgaben wie Haushalt und Einkäufe auch die häusliche Pflege ihrer Mutter. Die Klägerin ist zudem nach eigenen Angaben auf den Rollstuhl angewiesen. Die familiäre Bindung zwischen der Klägerin und ihrer Tochter hat bereits im Herkunftsland bestanden und die Tochter der Klägerin ist in der Lage, ihre Mutter zu unterstützen. Die Klägerin und ihre Tochter haben einen entsprechenden Wunsch auch schriftlich kundgetan – die Klägerin im Verwaltungsverfahren und im vorliegenden gerichtlichen Verfahren, die Tochter der Klägerin mit zur Gerichtsakte gereichten Erklärung vom 3. Februar 2023. Gründe, die entgegen der Regel des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-Verordnung die Trennung von Mutter und Tochter rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich.

Drohende Verelendung

Zum anderen weist das VG Düsseldorf auf die Gefahr einer Verelendung der Klägerin hin, falls sie in Kroatien als international schutzberechtigt anerkannt werden (also als Flüchtling anerkannt werden oder subsidiären Schutz bekommen) sollte. Durch den EuGH ist zwischenzeitlich geklärt worden, dass hinsichtlich der Frage, ob das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO aufweisen, nicht nur das Asylverfahren selbst, sondern auch die zu erwartende Situation nach einer etwaigen Anerkennung in den Blick zu nehmen sind. Zwar meint das Gericht, dass anerkannten Flüchtlingen in Kroatien nicht stets eine Verelendung droht, die eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GrCH bedeuten würde. Anders sieht es jedoch aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheiten für die konkret betroffene Klägerin aus:

Nach den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen und den im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung allgemein zugänglichen Informationen ist mithin davon auszugehen, dass die Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen für international Schutzberechtigte in Kroatien auch von der Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative des anerkannt Schutzberechtigten abhängig ist. Entscheidend ist, ob es ihm nach einer Anlaufzeit – ggf. mit Unterstützung durch den kroatischen Staat und NGOs – gelingen wird, trotz mangelnder Sprachkenntnisse und des ihm fremden Lebensumfeldes Arbeit zu finden und aus den daraus erzielten Einkünften seinen Lebensunterhalt auf zumindest niedrigem Niveau und damit auch seine elementarsten Grundbedürfnisse zu sichern. […]

Letzteres ist für die hier konkret betroffene Klägerin nicht anzunehmen. Es ist aus individuellen, in ihrer Person liegenden besonderen Gründen nicht ersichtlich, wie sie als international Schutzberechtigte in Kroatien die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse in Bezug auf Unterkunft, Ernährung und sanitäre Einrichtungen dauerhaft gewährleisten könnte. Es drohen vielmehr Obdachlosigkeit und Verelendung. Die Klägerin wird aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, sich den dargestellten Bedingungen für international Schutzberechtigte in Kroatien zu stellen. Es wird ihr nicht gelingen, mit der ggf. in Kroatien gewährten Unterstützung eigenverantwortlich ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Die dortigen Sozialleistungen sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen nicht ausreichend, um den Lebensunterhalt der Klägerin vollständig zu decken.

Die Klägerin zählt zu den in Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie; ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9) genannten besonders schutzbedürftigen Personengruppen. Denn die 66 Jahre alte Klägerin gehört der Gruppe der älteren Menschen an; zudem ist sie gesundheitlich stark angeschlagen. Sie ist aufgrund ihrer Erkrankungen nicht in der Lage, den Alltag alleine zu führen. Sie ist deutlich in Ihrer Mobilität eingeschränkt und auf fremde Hilfe bezüglich Hausarbeiten, Waschen und Essenszubereitung angewiesen.

Der Gerichtsbescheid ist rechtskräftig.

VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 29.03.2023, 12 K 846/23.A


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